Im Spätsommer 1958 verhandelte die Zivilkammer des Landgerichts München eine Schadensersatzklage gegen den renommierten Schönheitschirurgen Leo Adelheim, dem ein Operationsfehler vorgeworfen wurde. Die Klägerin berief sich zur Untermauerung ihrer Anschuldigung dabei auf die Expertise weiterer plastisch-kosmetischer Chirurgen, so dass auch der ebenfalls in München praktizierende Arzt Eduard H. Wegener eine Beurteilung abgab, die das Ansinnen der Klägerin stützte. Der Beklagte Adelheim reagierte auf die Einschätzung seines Kollegen, indem er der Kammer mitteilte, dass Wegener ein ehemaliger SS-Arzt sei und womöglich auch deshalb umfangreichere Kenntnisse besitze: „Bekanntlich haben manche SS-Ärzte in KZ. Lagern an den Häftlingen Experimente in plastischer Chirurgie durchgeführt. Es ist möglich, dass sie andere Ergebnisse als ich in meiner beinahe 40-jährigen Praxis haben.“ Bereits zuvor hatte Adelheim zudem den Verdacht geäußert, dass hinter der Klage „einer von Ehemaligen steckt“ und die Staatsanwaltschaft deshalb gebeten, ein Verfahren gegen die vermeintlichen Anstifter zu erwirken.1
Dort begann man nun – losgelöst vom Fall Adelheim – Ermittlungen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen anzustellen und Wegeners Vergangenheit zu durchleuchten. Schon eine Anfrage bei der Münchener Kriminalpolizei ergab, dass Wegener nach Kriegsende offenbar unter falschem Namen aufgetreten war. Ein entsprechendes Verfahren wegen Falschnamensführung hatte man 1955 eingestellt, obwohl Wegener erst seit kurzem offiziell die Änderung seines Nachnamens genehmigt worden war. Es kam heraus, dass er auf geschickte Weise seine Identität verschleiert hatte: Während er seine Vornamen Eduard Harald offiziell behielt und nach 1945 lediglich den Rufnamen wechselte, gestaltete er seinen Nachnamen geringfügig von ursprünglich Waegner zu Wegener um. Was den bayerischen Behörden entgangen war: Bei Harald Waegner alias Eduard Wegener handelte es sich um einen ehemaligen SS-Obersturmbannführer und Oberstabsarzt der Waffen-SS.
In Charkiw am 24. November 1908 in eine ukrainedeutsche Familie geboren, war jener Waegner 1924 nach Dresden übergesiedelt, wo er das Abitur ablegte. Nach dem Medizinstudium und einer kurzen Anstellung in einer chirurgischen Privatklinik in Passau machte der junge Arzt ab 1936 schnell Karriere in der SS und deren (para)militärischen Einheiten, so dass er zunächst als SS-Führer in der Sanitätsabteilung der SS-Verfügungstruppe arbeitete. Auch danach verband er die SS-Tätigkeit mit seiner beruflichen Qualifikation, indem er als Truppenarzt einer SS-Sanitätsstaffel in Dachau, Standartenarzt der Leibstandarte SS „Adolf Hitler“ und Sanitätsführer der SS-Verfügungstruppe, die später in der Waffen-SS aufging, tätig wurde. In dieser Funktion auch an der Front eingesetzt, erhielt Wegener 1940 das Eiserne Kreuz II. Klasse, bevor er im Juli 1941, nun bereits als SS-Sturmbannführer, zum Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete abgeordnet wurde.
Mit gerade einmal 32 Jahren übertrug man dem Oberstabsarzt der Waffen-SS hier die Leitung der Abteilung „Gesundheitswesen und Volkspflege“ (II.2), nachdem ihn Reichsgesundheitsführer Conti nicht zuletzt wegen seiner Sprachkenntnisse für diese Stellung empfohlen hatte und gleichzeitig zu seinem Beauftragten für die besetzten Ostgebiete ernannte. Schon 1942 unternahm man von Seiten der Verwaltungsabteilung des Ostministeriums erste Schritte, um eine Verbeamtung Waegners einzuleiten, der allerdings erst im Herbst 1944 als Ministerialrat übernommen werden konnte. Damit war er einer der jüngsten Beamten in vergleichbarer Stellung, die unter Rosenberg Dienst taten. Die ihm unterstellte Abteilung wurde von häufig ebenfalls sehr jungen Beamten und Referenten angeführt, die zu nicht geringen Teilen ganz ähnlich wie Waegner dem Dunstkreis der (Waffen-)SS entstammten.
Das Kriegsende erlebte Waegner als SS-Obersturmbannführer und Divisionsarzt der in Norditalien stationierten Waffen-Gebirgs-Division der SS (Karstjäger), zu der man ihn vom auseinanderfallenden Ostministerium aus im Oktober 1944 versetzt hatte und die in den letzten Kriegsmonaten für unzählige Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung verantwortlich zeichnete. Nach seiner Festnahme durch die US-Amerikaner unternahm der Mediziner einen Selbstmordversuch, offenbar aus Furcht, an die Sowjetunion ausgeliefert zu werden. Dem Entnazifizierungsverfahren in Augsburg, wo er zeitweise interniert war, entzog er sich durch erhebliche Fälschungen des Meldebogens, in dem er angab, weder NSDAP- noch SS-Mitglied gewesen zu sein und lediglich bei der Wehrmacht gedient zu haben. Die „Niederlassungsgenehmigung oder Übernahme eines Krankenhauses als Arzt sowie eine Anwärterschaft“ bei der NSDAP seien ihm gar „aus rassischen Gründen“ verwehrt worden. Waegner gelang es, sich der weiteren Überprüfung zu entziehen, obwohl bereits 1947 der stellvertretende Stadtarzt von Augsburg die örtliche Spruchkammer über Waegners Vergangenheit in Kenntnis setzte und sich empört zeigte, dass der Mann ihn nun um Befürwortung einer Bewerbung als Chefarzt bat.
Ungeachtet dieser Anschuldigungen gelangte er, nun schon als Wegener, schließlich nach München, wo er nach einigen Jahren als Belegarzt mit eigener Praxis im Jahr 1953 Leiter der Spezialabteilung für plastisch-kosmetische Chirurgie an einer Privatklinik in München wurde und dort 1957 seine eigene Spezialklinik eröffnete. In dieser Eigenschaft hatte er sich auch als Experte in den Fall Adelheim eingeschaltet, was ihm nun auf die Füße zu fallen drohte. Die Kriminalbeamten klopften, nachdem sie wussten, mit wem sie es zu tun hatten, das Umfeld Wegeners ab: Nacheinander vernahmen sie ehemals Untergebene aus der Gesundheitsabteilung des Ostministeriums, darunter fünf Referenten und eine Sekretärin. Drei von ihnen, der vormals stellvertretende Abteilungsleiter Otto Heinen und dessen Nachfolger Helmut Nowakowski sowie der Gruppenleiter David Fast, lebten zum Zeitpunkt der Ermittlungen ebenfalls in München. Fast war nach zehnjähriger Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion in die bayerische Landeshauptstadt gekommen, um hier als Assistent Wegeners wieder Anstellung zu finden. Auch der nun als Apotheker arbeitende Heinen gab zu Protokoll, dass die seit 1939 bestehende Bekanntschaft mit Wegener in München Fortbestand habe. Weder sie noch die ebenfalls vernommenen Referatsleiter Bruno Wand (Hygiene) und Alfons Martin (Personal) wollten oder konnten etwas Belastendes zur Wegener aussagen oder ihn gar mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Verbindung bringen. Stattdessen manifestierte sich in den Aussagen das Bild eines Mannes, der Alkohol und Vergnügen wenig abgeneigt war, aber auf medizinischem Gebiet angesichts seiner Karriere nur unzureichende Kenntnisse besaß.
Landeskriminalamt und Staatsanwaltschaft folgten den Zeugenaussagen und stellten ihre Untersuchungen im Mai 1960 schließlich ein. Abseits seiner Tätigkeit im Ostministerium unternahm man keine Versuche, Wegener weiter zu überprüfen, beispielsweise in Hinblick auf dessen Tätigkeit als SS-Obersturmbannführer in den letzten Kriegsmonaten in Italien. Die Einstellung des Verfahrens begründete man damit, dass die „Ermittlungen [.] in keiner Hinsicht den Verdacht, dass der Beschuldigte NS-Gewaltverbrechen begangen oder gefördert hat“, untermauern würden. Waegner konnte sich also ein letztes Mal den Strafverfolgungsbehörden entziehen, denen er schon seit 15 Jahren mithilfe von falschen Angaben zu entweichen versuchte. Weitere Ermittlungen wurden gegen ihn nach bisheriger Kenntnis nicht mehr angestellt. Ungeachtet des Tatvorwurfs, der angesichts der diffizilen Quellenlage in der Tat nur schwer zu prüfen ist, erlaubt der Fall Waegner/Wegener einen Blick auf die vielfältigen Beziehungen, die auch nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ fortbestanden und nicht nur die Entlastung Einzelner fördern konnten, sondern auch berufliche Perspektiven und Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten schufen.
Quellen:
BArch Ludwigsburg, B 162/20991; B 162/20425.
StA München, SpkA Karton 1917, Wegener, Eduard; STAANW 21235.
v. u. z. Mühlen, F.: Chefarzt Dr. med. E. H. Wegener 50 Jahre alt, gleichzeitig 25.-tes chirurgisches Berufsjubiläum, in: Cesra Säule. Wissenschaftliche und therapeutische Mitteilungen der Cesra-Arzneimittelfabrik Julius Redel, Baden-Baden, Hf. 11/12 , Jg. 5 (1958), S. 14f.
(1) Weitergehende Informationen zur Person Adelheims liegen nicht vor. Im Staatsarchiv Freiburg lassen sich allerdings mehrere Akten zu Wiedergutmachungs- und Restitutionsverfahren eines Kölner Arztes mit Namen Leo Adelheim finden.↩
Man hätte nur lesen müssen, was W. 1942/43 über „Probleme der Gesundheitsfürsorge in den besetzten Ostgebieten“, in „Ostaufgaben der Wissenschaft“ schrieb. Einen größeren Widerspruch zu den Richtlinien, die Hitler in dieser Frage an das Ostministerium senden ließ, kann man sich kaum denken! Deutschland „als Kulturstaat“ hätte die Aufgabe, die „Gesunderhaltung der einheimischen Bevölkerung sicherzustellen” u. ä.!