Forschungsgegenstand

Im Fokus des Forschungsprojekts steht die höhere Beamtenschaft von vier nationalsozialistischen Reichsministerien: des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, des Reichsluftfahrtministeriums, des Reichsministeriums für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung sowie des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete. Alle vier dieser Zentralbehörden wurden während der nationalsozialistischen Diktatur neu eingerichtet und hörten mit deren Ende auf zu existieren. Sie hatten demnach weder eine direkte Vorgänger- noch eine unmittelbare Nachfolgeinstitution auf Reichs- beziehungsweise Bundesebene.

Mit ihrem nur temporären Bestehen bieten die genannten Ministerien ein vielversprechendes Tableau für die Frage nach personellen Kontinuitäten und der nationalsozialistischen Personalpolitik einerseits sowie Einflüssen und Wirkungskreisen der administrativen Elite des „Dritten Reichs“ nach 1945 andererseits. So kann das als kollektivbiographische Querschnittsstudie angelegte Projekt erhellen, welche Rekrutierungskriterien für die Berufung in neu vom nationalsozialistischen Regime geschaffene Ministerien ausschlaggebend waren. Zugleich lassen sich Erkenntnisse darüber gewinnen, in welche auch außerministeriellen Bereiche die Nachkriegswege von Beamten der nationalsozialistischen Zeit führten. Denn allein schon wegen des ersatzlosen Wegfalls ihrer Behörden war für diese Ministerialbeamte die Fortsetzung ihrer Karrieren an gleicher Stelle ausgeschlossen. Hinzu kam außerdem eine besondere politische Belastung, hatten die Beamten doch auf Reichsebene Ministerien angehört, die maßgeblich an der ideologischen „Gleichschaltung“ des öffentlichen Lebens (Reichsministerien für Volksaufklärung und Propaganda sowie Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung) beziehungsweise an der Kriegsplanung und Kriegsführung (Reichsluftfahrtministerium) und der Expansions- und Vernichtungspolitik (Ministerium für die besetzten Ostgebiete) mitgewirkt hatten.

Leitfragen

Zentrale Forschungsfragen für die Gründungsphasen der Ministerien und die personelle Entwicklung bis zum Ende der nationalsozialistischen Diktatur sind: Welche beruflichen Vorerfahrungen hatten die Bürokraten, die Joseph Goebbels als Reichspropagandaminister, Hermann Göring als Reichsluftfahrtminister, Bernhard Rust als Reichserziehungsminister und Alfred Rosenberg als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete in ihre Behörden beriefen? Wie viele von ihnen entsprachen dem herkömmlichen Karrieremuster von Ministerialbeamten und wie hoch war demgegenüber der Anteil von Quereinsteigern in die Beamtenlaufbahn? War der nationalsozialistische Idealtypus des Beamten als „Weltanschauungskämpfer“ stärker vertreten als in anderen Reichsministerien? Welche Bedeutung hatten die NSDAP-Parteimitgliedschaft, das Datum des Parteieintritts und die Mitgliedschaften in weiteren Parteiformationen und Parteiorganisationen für Einstellung und Karriereverläufe der Beamten? Hinsichtlich der Funktionsweise der Verwaltung im „Dritten Reich“ soll schließlich auch danach gefragt werden, wie Parteiinteressen und die Notwendigkeit bürokratischen Sachverstands in den vier Neuministerien ausbalanciert wurden.

Mit der Fokussierung der Nachkriegswege und -karrieren von Beamten dieser nachfolgelos gebliebenen Reichsministerien wiederum lassen sich die Mechanismen des Reintegrationsprozesses und auch die Grenzen der „nachnationalsozialistischen Solidargemeinschaft“ (Klaus Schönhoven) noch präziser beleuchten, als wenn in erster Linie die politischen Vorbiographien von Beamten der obersten Behörden der frühen Bundesrepublik untersucht werden. Denn hier rücken neben den Beamten, die ihren Weg (früher oder später) im Staatsdienst fortsetzen konnten, diejenigen in den Blickpunkt, die sich beruflich umorientierten oder umorientieren mussten und beispielsweise in der privaten Wirtschaft ihr Auskommen fanden. Für beide Gruppen stellt sich die Frage, wo genau die ehemaligen Reichsbeamten unterkamen, sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch bezüglich der neuen Position: In welcher Branche und welchem Berufszweig fanden sie eine Beschäftigung? Welches Bundes- oder Landesministerium stellte sie wieder ein und in welcher Abteilung waren sie dann tätig? War die neue Anstellung mit einem Prestigeverlust durch eine rangniedrigere Stellung verbunden oder gelang es, einen etwa gleichwertigen oder gar höheren Status als im „Dritten Reich“ zu erlangen? Welche Möglichkeiten boten sich für die Angehörigen der administrativen Elite der nationalsozialistischen Zeit in Westdeutschland, welche in Ostdeutschland? Welche Rolle spielten bei der Arbeitssuche Kontakte und Netzwerke, die in der Zeit des Nationalsozialismus oder schon vor 1933 entstanden waren oder sich nach Kriegsende neu ergaben? In diesem Zusammenhang sind auch mentale Kontinuitäten beziehungsweise Reorientierungen zu untersuchen: Wandelte sich die politische Überzeugung oder hielten die gewissermaßen an vorderster ministerialer NS-Front eingesetzten „Weltanschauungskämpfer“ auch nach 1945 an der nationalsozialistischen Ideologie fest? Wie wirkten sich mögliche mentale Kontinuitäten auf die Arbeit in den neuen Positionen aus?

Methodischer Zugriff und Erkenntnisziele

Anknüpfend an die bisherigen Forschungen zur nationalsozialistischen Belastung zentraler deutscher Behörden und aufbauend auf die Studien, die zu den hier im Fokus stehenden Reichsministerien bereits vorliegen, Personalfragen allerdings entweder eher am Rande oder nicht über beide politischen Einschnitte von 1933 und 1945 hinweg betrachten, möchte das Projekt mit seiner zäsuren- und behördenübergreifenden Untersuchung einen Beitrag ebenso zur Verwaltungsgeschichte des „Dritten Reichs“ wie zur Geschichte der politischen Kultur der Nachkriegszeit leisten. Beantwortet werden soll unter anderem die Frage, wie nazifiziert die Beamtenschaft spezifisch nationalsozialistischer, da nur während der Zeit des Nationalsozialismus existenter Behörden im Vergleich zu Ministerien mit Behördenkontinuität war und inwiefern diese Prägungen nach 1945 weiterwirkten. Im Projekt wird dabei der kollektivbiographische Zugriff vor allem auch um mentalitätsgeschichtliche und netzwerkanalytische Zugänge ergänzt.

 

Das Projekt ist Teil des von der Beauftragten für Kultur und Medien aufgelegten Forschungsprogramms „Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus“.