Die getarnte Ausbildungsstätte Lipezk in der Sowjetunion. Heimliche Luftwaffenrüstung in der Zeit der Weimarer Republik

Die politische Isolierung des Deutschen Reichs und der noch jungen Sowjetunion nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die Neugründung Polens, welches aufgrund seiner Grenzen mit beiden Staaten im Konflikt stand, und die militärischen Restriktionen des Versailler Vertrags für Deutschland führten von 1920 bis 1933 zwischen der Reichswehr und der Roten Armee zu einer geheimen Zusammenarbeit. Die ersten Kontakte kamen Anfang 1920 zustande. Mit dem Vertrag von Rapallo am 16. April 1922 fand die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Sowjetunion eine rechtliche Grundlage. Darin wurden der gegenseitige Verzicht auf Kompensation für die im Verlauf des Ersten Weltkriegs entstandenen Schäden sowie die Wiederaufnahme der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten erklärt.

Fokker D XIII auf dem Flugplatz in Lipezk | CC BY-SA 2.0 DE, BArch RH 2/2292

Die deutsch-sowjetische Annäherung gipfelte in der Einrichtung eines Panzerübungsplatzes in Kazan, einer Anlage für Giftgas in Saratov und eines Flugplatzes in dem 400 Kilometer südlich von Moskau gelegenen Urlaubsort Lipezk am Woronesch. Letzterer stach unter den drei Einrichtungen hervor, denn das Truppenamt des Reichswehrministeriums maß den Fliegern die größte Priorität zu, so sollten die Maßnahmen darin münden, die Wiederaufrüstung der Luftwaffe zu ermöglichen. 1923 richtete das Reichswehrministerium in der deutschen Botschaft in Moskau die „Zentrale Moskau“ ein, die als verlängerter Arm des Ministeriums galt und von wo aus die Ausbildung koordiniert werden sollte. Zunächst wurde die Operation mit dem „Ruhrfonds“ der deutschen Industrie finanziert. Bis 1917 hatte sich in Lipezk ein Montagewerk für Flugzeuge befunden. Nach dem Ende des Bürgerkriegs wurde in Lipezk eine höhere Fliegerschule eingerichtet. 1924 wurde sie, um den Deutschen Platz zu machen, geräumt. Vorausgegangen war eine Kooperation der Firma Junkers, die bereits nach Unterzeichnung eines Konzessionsvertrags am 26. November 1922 in Fili bei Moskau ein Flugzeugwerk errichtete und dort neue Flugzeugtypen erprobte. Als Anreiz wurden dem Unternehmen Privilegien eingeräumt, so unter anderem die Produktion von Aluminium in Russland, abgabefreier Export von Erdöl und Überflugrechte in der UdSSR. Der Aufbau der Flugbasis begann 1924, offiziell unter dem Titel „Wivupal“, ein Akronym für „Wissenschaftliche Versuchs- und Prüfanstalt für Luftfahrzeuge“. Deutsche Vertreter und das Kommando der sowjetischen Luftstreitkräfte unterschrieben am 15. April 1925 den Vertrag zur Einrichtung der Fliegerschule.

Hermann von der Lieth-Thomsen war bis 1929 Leiter der geheimen Ausbildung in der UdSSR | Roszix123, Hermann von der Lieth-Thomsen, CC BY-SA 4.0

Viele dort tätige Offiziere kamen in Folge und während des Zweiten Weltkriegs im Reichsluftfahrtministerium und der Luftwaffe zu Rang und Namen. Zum Chef der Verbindungsstelle „Zentrale Moskau“ wurde ein erfolgreicher Flieger des Ersten Weltkriegs und Träger des Pour le Mérite Ordens, Hermann von der Lieth-Thomsen. Offiziell im Ruhestand befindend, bezog er jedoch weiter Offizierssold und lebte als Zivilist in Moskau. Um die deutsche Regierung weitestgehend unerwähnt zu lassen, war es auch von der Lieth-Thomsen, der den Vertrag über Lipezk abschloss. Bis 1929 sollte er dort bleiben, dann wurde er aus gesundheitlichen Gründen abgelöst, von der Lieth-Thomsen erblindete nämlich zunehmend. Ab 1935 leitete er bis zu seinem Tod 1942 die Kriegswissenschaftliche Abteilung der Luftwaffe im RLM und wurde am 1. August 1939 zum General der Flieger ernannt. Leiter der Fliegerschule wurde 1925 Walter Stahr (1882 – 1948), auf ihn folgte 1929 Max Mohr (1884 – 1966). Beide sollten später im RLM als Offiziere Verwendung finden und Stahr zum Generalmajor, Mohr zum General der Flieger aufsteigen. Neben den Leitern waren einige der auszubildenden Piloten später ebenfalls im Ministerium tätig und erreichten den Generalsrang. So absolvierte Werner Kreipe, dort in den Jahren 1928 bis 1930 seine Ausbildung, später General der Flieger und Chef des Ausbildungswesens im RLM oder Günther Korten zwischen 1928 und 1929, später Generaloberst und Chef des Generalstabs der Luftwaffe. Ein weiterer prominenter Absolvent sollte Josef Kammhuber werden (1896 – 1986). Auch Kammhuber erreichte während des Zweiten Weltkriegs den Generalsrang. Nach Kriegsende fand er in der Luftwaffe der neugegründeten Bundeswehr Wiederverwendung und wurde 1957 zum Inspekteur ernannt. Viele Piloten, die in Lipezk ausgebildet wurden, sollten während des spanischen Bürgerkriegs in der Legion Condor ihre ersten Einsätze fliegen und Karriere machen. Darunter Günther Lützow (1912 – 1945), der es zum Oberst schaffte, der spätere Generalleutnant Alexander Holle (1898 – 1978) und Andreas Nielsen (1899 – 1957), der ebenfalls in den Rang eines Generalleutnants erhoben wurde.

Unterrichtsraum für Beobachter-Offiziere | BArch RH 2/2292

Der Flug- und Ausbildungsbetrieb startete im Sommer 1925, als die ersten Fokker D XIII von Stettin über Leningrad eintrafen. Anfangs kamen Reichswehroffiziere, die bis 1918 Flieger gewesen waren und Auffrischungskurse erhielten. Sie sollten anschließend als Ausbilder ihr Wissen weitergeben. Später nahm man auch Offiziere mit zivilem Pilotenschein. Zwischen 1925 und 1933 wurden ungefähr 120 Jagdflieger und 100 Beobachter sowie Bodenpersonal ausgebildet. Darunter befanden sich 30 Flieger aus dem Ersten Weltkrieg und 20 ehemalige Piloten aus der zivilen Luftfahrt. Dabei wurde auf eine sehr strenge Geheimhaltung geachtet. Der Transport, die Verwaltung und die Logistik fungierten unter fiktiven Angaben, die mit dem Unterhalt befassten Stellen erhielten Tarnnamen. Das deutsche Personal vor Ort erhielt sein Gehalt in Dollar ausgezahlt. Die auszubildenden Reichswehrangehörigen mussten vorher den aktiven Dienst quittieren und unter falschem Namen in die Sowjetunion einreisen. In Lipezk bewegten sie sich in Zivilkleidung oder trugen sowjetische Uniformen ohne Rangabzeichen. Die Flugzeuge wurden in Einzelteilen zerlegt mit der Bahn und Schiffen transportiert, besonders brisantes Material, Munition und Bomben, wurde in aufwendigen Aktionen mit Kleinseglern über die Ostsee nach Leningrad gebracht.

Das Lipezker Unternehmen schien den Franzosen und Briten bis zu seinem Ende 1933 verborgen geblieben zu sein. Die Erfahrung in der Organisation, Planung und Tarnung sowie die Ausbildung und Schulung des Personals waren der größte Erfolg der heimlichen Luftrüstung während der Jahre der Republik. Schon 1931 gab es 300 gut ausgebildete Flieger im Heer und 50 bei der Marine, zwei Jahre später war die Gesamtzahl auf rund 550 gestiegen, die den Kern der künftigen Luftwaffenführung bilden sollte.

Mit der ideologisch bedingten Ablehnung der nationalsozialistischen Regierung wurde die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zunehmend zum Problem. Auch entwickelte Deutschland mit Duldung des Westens ab Anfang der 1930er Jahre seine Streitkräfte zunehmend im Inland, daher erschien der Unterhalt der Einrichtung im Ausland immer weniger notwendig. Als formaler Grund der Schließung wurden finanzielle Aspekte genannt, denn der Unterhalt war in der Tat nicht billig, die jährlichen Ausgaben beliefen sich auf zwei Millionen Reichsmark. Am 18. August 1933 wurde der Flugplatz der Roten Armee zurückgegeben.

 

Literatur:

Gorlow, Sergeij A.: Geheimsache Moskau – Berlin. Die militärpolitische Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich 1920 – 1933, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 44 (1996), Heft 1, S. 133-165.

Sobolew, Dmitrij: Die Junkers-Konzessionen zum Flugzeugbau in Fili und die Fliegerschule in Lipezk. Zur Geschichte militärtechnischer Zusammenarbeit, in: Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen (Hrsg. v. Karl Eimermacher u. Astrid Volpert). Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit. München 2006, S. 209-245.

Speidel, Helm: Reichswehr und Rote Armee, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 1 (1953), Heft 1, S. 9-45.

 

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