Am 25. Oktober 1982 starb Werner Naumann im Alter von 73 Jahren in Lüdenscheid. Der promovierte Volkswirt war 1937 als Mitarbeiter des Ministerbüros in den Dienst des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels eingetreten. 1938 wurde er Leiter des 1940 in Ministeramt umbenannten Ministerbüros und stieg 1944 zum geschäftsführenden Staatssekretär des Reichspropagandaministeriums auf. Von Hitler wurde er testamentarisch sogar zum Nachfolger Goebbels‘ bestimmt. Nach dem Ende der NS-Diktatur tauchte Naumann zunächst unter, um 1950 dann als Geschäftsführer der Import-Export-Firma Combinel in Düsseldorf wieder in Erscheinung zu treten. Die Firma gehörte Herbert Lucht; beide kannten sich über ihre Propagandatätigkeiten während der NS-Zeit, da Lucht Propagandaoffizier in der Propagandastaffel des Militärbefehlshabers Frankreich im besetzten Paris gewesen war und dort die Abteilung Kultur geleitet hatte.
Auch auf anderem Gebiet sollte sich Naumann als effizienter Netzwerker erweisen, nämlich beim Aufbau des sogenannten Gauleiter- oder Naumann-Kreises. So gelang es ihm, zahlreiche ehemalige (und unverbesserliche) Nationalsozialisten um sich zu versammeln, die sich unter anderem zu einem „Stammtisch“, wie diese unter Naumanns Leitung stattfindenden Treffen verharmlosend benannt wurden, in Düsseldorf und als „Hamburger Kreis“ unter Führung des ehemaligen Salzburger Gauleiters Gustav Adolf Scheel trafen, um dort ihr nationalsozialistisches Gedankengut zu pflegen und für dessen Fortwirken in der Bundesrepublik zu sorgen.
Aufgrund dieser Aktivitäten wurde Naumann im Januar 1953 mit sechs weiteren Personen von der britischen Besatzungsmacht verhaftet; es bestand der Verdacht einer neonazistischen Verschwörung, die auf den Sturz der Bonner Regierung hinarbeite. Der „Spiegel“ hingegen beschrieb den „Naumann-Kreis“ damals folgendermaßen: „Der Kreis war eher eine NS-Erinnerungsgemeinde und eine braune Hilfe, die Stellungen vermitteln wollte. Der Kreis war weder geschlossen noch ein Kreis im geometrischen Sinne, dessen Punkte – sprich Mitglieder – vom Mittelpunkt gleich weit entfernt waren. Die meisten der etwa hundert Gesinnungsfreunde waren nur durch gelegentliche Besuche und Korrespondenzen verbunden.“
Demnach schätzte das Nachrichtenmagazin den „Naumann-Kreis“ im Gegensatz zur britischen Besatzungsmacht nicht wirklich als gefährlich für die Bundesrepublik und ihre junge Demokratie ein, sondern sah darin eher eine Art „Hilfsnetzwerk“ für ehemalige Nationalsozialisten. Auch betrachtete der „Spiegel“ den Kreis vor allem als eine Ansammlung von Nostalgikern, bezeichnete er sie doch als „Erinnerungsgemeinde“ und „Gesinnungsfreunde“, und sah diesen als eine eher lose miteinander verbundene Gruppe von Personen. Anders der zuständige Staatsanwalt, der feststellte, dass es „zu einem immer enger werdenden Kontakt innerhalb der ‚Kreise‘ und beider Kreise untereinander [Düsseldorf und Hamburg]“ gekommen sei, so dass sich „ein organisatorischer Zusammenhalt“ unter Naumanns Führung ergeben habe. Ursächlich für diesen engen Zusammenhalt sei, so der Staatsanwalt, ein gemeinsames Ziel der beiden Kreise, nämlich nicht nur die Erhaltung und Fortbildung des nationalsozialistischen Ideenguts, sondern auch die Wiedererrichtung der nationalsozialistischen Herrschaft. Mittel zum Zweck sollte dabei die Unterwanderung von politischen Organisationen und Parteien sein, insbesondere der FDP.
Für unser Forschungsprojekt, das für die Zeit nach 1945 auch nach fortbestehenden Kontakten und Netzwerken der früheren Ministerialbeamten fragt, ergibt sich hier ein interessanter Befund. Denn sowohl im „Naumann-Kreis“ als auch in der FDP und ihrem Umfeld befanden sich mehrere ehemalige Kollegen Naumanns aus dem Reichspropagandaministerium. Beate Baldow zählt in ihrer Studie zur „Naumann-Affäre“ insgesamt 123 Personen zum inneren und äußeren Kreis sowie dem „Hamburger Kreis“. Davon waren 14 im Propagandaministerium tätig gewesen, also ein durchaus beachtlicher Anteil von über zehn Prozent, viele von ihnen überdies in leitender Funktion. Zehn der früheren Beamten, die neben Naumann selbst zum inneren oder äußeren Kreis des „Naumann-Kreises“ gehörten, hatten im RMVP die Position eines Abteilungsleiters gehabt; zwei weitere leitende Beamte des Propagandaministeriums zählt Baldow ebenfalls zu Naumanns Kontakten.
Auch eine der im Januar 1953 mit Naumann verhafteten Personen war ein ehemaliger Mitarbeiter des Reichspropagandaministeriums: Karl Scharping, der in der Rundfunkabteilung des Ministeriums tätig und Stellvertreter des Abteilungsleiters Hans Fritzsche gewesen war. Mit Blick auf die Verbindungen zur FDP sind jedoch vor allem zwei ehemalige Beamte interessant, die ebenfalls zum „Naumann-Kreis“ zählten. Horst Huisgen und Wolfgang Diewerge. Huisgen war ein „alter Kämpfer“, der in der Propagandaabteilung des Ministeriums für Jugend und Sport zuständig war. Nach 1945 wurde er Mitglied der FDP, ab 1950 fungierte er als Hauptgeschäftsführer des FDP-Landesverbands Niedersachsen. 1951 wurde er dort auch zum Landtagsabgeordneten gewählt und war Anfang der 1960er Jahre stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion. Wolfgang Diewerge hatte ab 1934 im Ministerium gearbeitet und war zwischenzeitlich auch Leiter der Rundfunkabteilung; unter anderem hatte er den Kommentar im „Völkischen Beobachter“ zu Herschel Grynszpans Attentat auf Ernst vom Rath verfasst, das den Vorwand für die Novemberpogrome 1938 bilden sollte, und hatte auch den geplanten Prozess gegen Grynszpan mit vorbereitet. Anfang der 1950er Jahre arbeitete Diewerge als persönlicher Referent von Friedrich Middelhauve, dem Landesvorsitzenden der FDP von Nordrhein-Westfalen, der vor allem versuchte, eine Ausrichtung seiner Partei zur politischen Rechten systematisch voranzutreiben. Für Naumann hatte Diewerge durch seine Position, die ihm, so Diewerge, Naumann selbst vermittelt haben soll, bei der FDP auch die Funktion als Informant. Mitglied der FDP wurde er nicht.
Naumann wurde 1953 nach wenigen Monaten Haft wieder entlassen und vom Verdacht eines Umsturzes letztlich freigesprochen. Weiterhin verkehrte er in rechten Kreisen, auch der Deutschen Reichspartei (DRP), wo er Bundestagskandidat werden sollte. Indem man ihn daraufhin als „belastet“ entnazifizierte, wodurch er das aktive und passive Wahlrecht verlor, wurde dies allerdings verhindert. Nach wie vor hatte Naumann aber Kontakt zu „Ehemaligen“, so auch zu Karl Cerff, der ebenfalls zum „Naumann-Kreis“ gehört hatte und eine interessante Figur für die Frage nach Netzwerken ist, die in der Bundesrepublik nationalsozialistisch (nach)wirkten. Denn Cerff war unter anderem Funktionär der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS (HIAG). Er war selbst Mitglied der Waffen-SS gewesen und setzte sich nun vor allem für Rehabilitierung und Strafvermeidung oder -abmilderung ein. In diesem Zusammenhang versuchte er zum Beispiel auch, bei der Einrichtung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg zu intervenieren, und unterhielt Kontakte zu vielen Politikern und zu Institutionen der politischen Bildung.
Laut Klees Personenlexikon war auch Cerff im Jahr 1944 im Propagandaministerium tätig, was von der Forschung bislang allerdings noch nicht verifiziert werden konnte. Sicher ist, dass er auf Parteiebene zur „Dienststelle Goebbels“, wie es in den Akten vermerkt ist, abgeordnet war und als Berater des Leiters der Rundfunkabteilung Hans Fritzsche fungierte. Auch Fritzsche zählte zum „Naumann-Kreis“, wobei vermutet wird, dass er und Naumann an der Vorbereitung des so genannten „Deutschen Programms“ beteiligt waren, das in der FDP 1952 zur Abstimmung stand. Dieses wiederum hatte Friedrich Middelhauve für seinen Rechtskurs entwerfen lassen – und zwar von seinem Mitarbeiter Diewerge. Hier schließt sich noch einmal der Kreis der Netzwerke zwischen Reichspropagandaministerium, „Naumann-Kreis“ und der FDP der frühen Bundesrepublik.
Literatur und Quellen:
Baldow, Beate: Episode oder Gefahr? Die Naumann-Affäre, Diss. Freie Universität Berlin 2012 (online).
Jenke, Manfred: Verschwörung von rechts? Ein Bericht über den Rechtsradikalismus in Deutschland nach 1945, Berlin 1961.
Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Hamburg 22016.
Trittel, Günter J.: „Man kann ein Ideal nicht verraten …“ Werner Naumann – NS-Ideologie und politische Praxis in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2013.
Wilke, Karsten: Karl Cerff: Propagandist und Apologet des Nationalsozialismus, in: Proske, Wolfgang (Hg.), Täter Helfer Trittbrettfahrer, Bd. 7: NS-Belastete aus Nordbaden+Nordschwarzwald, Gerstetten 2017, S. 43-53.
Nau-Nau, in: Der Spiegel, 21.1.1953, S. 5-8.
LA BW GLAK 465 f 1204: Spruchkammerakte Karl Cerff.