Nachkriegswege auf kommunaler und Bundesebene. Wolfgang Mülberger, Tübingens erster Oberbürgermeister nach 1949 und seine Karriere in der Luftwaffe

Eine Großzahl an Beamten des höheren Diensts, welche zwischen 1933 und 1945 im Reichsluftfahrtministerium tätig waren, entstammten den 1880er und den 1890er Jahrgängen, traten also schon zur Zeit der Weimarer Republik in den Staatsdienst ein und wechselten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren in den Ruhestand oder verstarben. Dennoch gab es viele ehemalige höhere Beamte der Luftfahrt, vorzugsweise aus dem 1900er Jahrgang, welche nach 1945 beruflich wieder Fuß fassten und Karriere machten.

Wolfgang Mülberger war einer von ihnen, er konnte zuerst 1949 auf kommunaler Ebene als vierter Nachkriegs-Oberbürgermeister von Tübingen und darauffolgend 1962 im Bundesdienst als Präsident der Wehrbereichsverwaltung in Stuttgart an seine Karriere in der NS-Zeit anknüpfen. Im Gegensatz zu seinem Herausforderer Hans Gmelin, gegen den er bei der Oberbürgermeisterwahl in Tübingen 1954 knapp unterlag, spielte seine NS-Vergangenheit im Wahlkampf keine Rolle.

Wolfgang Mülberger
Wolfgang Mülberger während seiner Amtszeit als Oberbürgermeister in Tübingen | Hugo Kocher, Stadtarchiv Tübingen D15 ZGS 1.

Wolfgang Mülberger wurde als eines von drei Kindern des Esslinger Oberbürgermeisters und Württembergischen Landtagsabgeordneten Dr. Max von Mülberger und der Opernsängerin Elisabeth, geborene Leisinger, am 21. Juni 1900 in Esslingen am Neckar geboren. Wolfgang Mülberger, gelegentlich auch Wolf genannt, meldete sich nach seinem Abitur in Esslingen im Juli 1918 freiwillig zum Kriegsdienst und studierte anschließend wie auch schon der Vater, Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Tübingen. Für seine Promotion zog es ihn an die Universitäten Leipzig und Göttingen. Während seiner Studiumszeit organisierte sich Mülberger in studentischen Freikorps. Mit dem Bestehen des zweiten Staatsexamens 1926 arbeitete Mülberger in verschiedenen Anwaltskanzleien in Berlin, eher er sich 1930 dort selbstständig machte.

Während der Vater zeitweise Mitglied in der Deutschen Partei und seit 1918 in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) war, beteiligte sich Wolfgang Mülberger politisch nicht, ehe er am 1. Mai 1933 in die NSDAP eintrat. Die berufliche Karriere des Vaters entwickelte sich nach 1933 für die Familie zur Belastungsprobe. Der Vater war aufgrund seines früheren demokratischen Engagements Anfeindungen der Nationalsozialisten ausgesetzt. Der Sohn war hin und her gerissen, sich für seinen Vater einzusetzen oder dem NS-Staat die Treue zu halten, konnte sich aber schlussendlich nicht dazu überwinden, Stellung zu beziehen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Beamten des höheren Diensts im RLM, kam Mülberger während des Ersten Weltkriegs aufgrund seiner kurzen Kriegszeit nicht mit der Fliegerei in Verbindung. Seine Faszination für die Luftfahrt und den Flugsport entwickelte sich dennoch in den 20er Jahren, so legte er in Berlin die Prüfung für den Segel- und Sportfliegerschein ab. Während seiner Zeit im RLM folgte 1937 der Militärflugzeugführerschein, im darauffolgenden Jahr nahm er mit einer Messerschmitt Bf 108 an Flugwettbewerben in Nordafrika teil. Bis Kriegsende sollte Mülberger über 30 Feindflüge absolvieren.

Schenkt man den Angaben in seiner Spruchkammerakte Glauben, führte Mülberger in Berlin eine „aufblühende“ Anwaltspraxis. Wieso er im Juli 1933 seine Tätigkeit als Rechtsanwalt aufgab und ins Reichsluftfahrtministerium wechselte, scheint daher augenscheinlich schwer nachvollziehbar. Mülberger verwies darauf, dass aufgrund der massenhaften Entlassung jüdischer Anwälte im März 1933, die Rechtspflege in Berlin „monatelang faktisch ruhte“. Darüber hinaus rechtfertigte er sich nach 1945 damit, dass der Schritt in die Wehrmacht auch eine Möglichkeit für ihn bot, sich „dem Parteieinfluss zu entziehen“.

Mülberger durchlief im RLM das Luftwaffenverwaltungsamt, das Zentralamt und das Allgemeine Amt, eher er, mittlerweile Oberregierungsrat und Leutnant der Reserve, im Juli 1937 ins Luftwaffenkommando See nach Kiel versetzt wurde. Es folgte im August 1939 abermals ein Referentenposten im Luftwaffenpersonalamt des RLM, bis er 1940 ins Luftgaukommando Norwegen berufen wurde. Dort erfolgte die Ernennung zum Oberstintendanten, was dem Rang eines Ministerialrats entsprach. Darauf folgten Einsätze bei Luftflotten in Finnland, Serbien, Albanien, Kroatien, Ungarn und Österreich. Ehe er im Dezember 1944 im Luftgaukommando Stuttgart Verwendung fand. Dort geriet er im April 1945 für drei Jahre in französische Kriegsgefangenschaft. Während seiner Gefangenschaft siedelte seine Frau Gerta und Sohn Max, sein zweiter Sohn kam kurz nach Kriegsende ums Leben, von Berlin zur Verwandtschaft nach Esslingen über.

Wolfgang Mülberger während seiner Zeit in der Luftwaffe | BArch PERS 6/183613.

Im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens legte er großen Wert darauf hervorzuheben, dass er während seiner Zeit im RLM bis Kriegsbeginn ausschließlich mit Verwaltungsaufgaben im zivilen Sektor der Luftfahrt beauftragt gewesen sei. Die „rein juristischen Angelegenheiten“ in Verbindung mit seiner „sportlichen Begeisterung“ und „fliegerischen Interessen“ waren, so Mülberger, ebenfalls ausschlaggebend, ins RLM zu wechseln.

Mülberger strebte seinen Angaben zufolge nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft eine Anstellung im Staats- oder Kommunaldienst an, die Entnazifizierungseinstufung V (entlastet) war daher von „entscheidender Bedeutung“ für ihn. Denn als Angehöriger der Wehrmacht sah sich Mülberger im Entnazifizierungsverfahren dem Vorwurf des Militarismus ausgesetzt, den er nach Kräften auszuräumen versuchte. Auch während seiner Zeit als Oberbürgermeister wurde er nicht müde zu betonen, dass das Reichsluftfahrtministerium aus „rein zivilen Abteilungen“ bestanden habe.

In seinem Spruchkammerverfahren setzten sich einige seiner ehemaligen Kollegen und Vorgesetzten aus dem RLM für ihn ein. So attestierten ihm unter anderem Rudolf Hagmann, Alfred Krupka und Karl Max von Hellingrath, dass er sich während seiner Zeit im RLM ausschließlich mit zivilrechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten der Luftfahrt beschäftigt habe. Ferner kam ihm zugute, dass die Anklage der Argumentation von Mülberger und seiner Verteidigung dahingehend folgte, dass ihm seine Parteimitgliedschaft nur für zwei Monate angelastet wurde, also vom 1. Mai bis zum Eintritt in die Luftwaffe Ende Juni, da politische Beteiligung Angehörigen der Wehrmacht gemäß des Wehrgesetzes nominell verboten war und eine etwaige Parteimitgliedschaft zu ruhen habe. Schlussendlich wurde er im Juni 1948 von der Spruchkammer der Stadt Esslingen als entlastet eingestuft.

Im November 1948 setzte er die französischen Besatzungsbehörden davon in Kenntnis, dass er vorhabe, sich um einen Bürgermeisterposten zu bewerben. Ursprünglich dachte er dabei an den Oberbürgermeisterposten in Ulm und Esslingen. Seine 1948 erfolgte Kandidatur in Esslingen scheiterte. Schlussendlich trat er in Tübingen als Parteiloser gegen den seit Januar 1946 amtierenden Oberbürgermeister Adolf Hartmeyer (SPD) an. Am 5. Dezember 1948 wurde er mit großer Mehrheit (60%) zum ehrenamtlichen Oberbürgermeister von Tübingen gewählt, der Amtsantritt erfolgte am 3. Januar 1949. Der vierte Tübinger Oberbürgermeister seit der Nachkriegszeit. Darauffolgend wurde er im April Mülberger in den Gesamtvorstand des Gemeindetags Württemberg-Hohenzollern berufen und darüber hinaus Mitglied im Hauptausschuss des Deutschen Städtetags.

Im Februar 1952 traten, so schilderte es Mülberger dem Tübinger Gemeinderat, Esslinger Vertreter der rechtsextremistischen Deutschen Gemeinschaft (DG) an ihn heran, um ihn für die Kandidatur der Landesversammlung des neugegründeten Südweststaats zu gewinnen. Diese neugegründete “politische Bewegung” sei in der Lage gewesen, den “Aufbau des Südweststaats” voranzutreiben und den “Zwiespalt zwischen Alt- und Neubürgern in unserer Heimat” zu überwinden. Er werde sich daher der Kandidatur “nicht verschließen”. Mülberger scheint sich aber von einer Kandidatur kurz darauf wieder distanziert zu haben. Zu einem weiteren Engagement für die DG kam es aus ungeklärten Umständen nicht mehr.

Mülberger konnte die Stadtentwicklung Tübingens maßgeblich mitgestalten. Während seiner Amtszeit wuchs die Bevölkerung aufgrund seiner Baupolitik von 36.750 auf 45.000 Einwohner. Trotz Einschränkungen, so war die Stadtkasse leer, Lebensmittelkarten waren an der Tagesordnung und es hatten nach wie vor die französischen Besatzer das Sagen. In einem Nachruf 1983 würdigte ihn der damalige Tübinger Oberbürgermeister Eugen Schmid (geb. 1932), dass sein „Wirken die „Zeit überdauern werde“. Es seien die vielen Aufbauleistungen, wie die Eberhardsbrücke, die Mörikeschule, das erste Studentenwohnheim, die Nordstadt und insbesondere die Förderung der Universität, um welche er sich verdient gemacht habe. Nicht unerheblich für sein Wirken in Tübingen war auch die Tatsache, dass er mit dem Tübinger Stadtdirektor Gustav Asmuß einen erfahrenen Verwaltungsmann an seiner Seite hatte.

Neben der Tübinger Stadtentwicklung machte sich Mülberger auch für den Zusammenschluss von Württemberg-Baden, Baden und Württemberg-Hohenzollern stark und setzte sich vehement für die Gründung des Südweststaats ein. Im August 1951 folgte der Ruf aus dem Bundesverkehrsministerium, die Abteilung Luftfahrt zu übernehmen, welchen Mülberger als Geste der Loyalität Tübingens gegenüber, ausschlug. Daraufhin wurde Kurt Knipfer ins das Amt berufen. Es war ein Angebot, welches Mülberger sicher nicht abgelehnt hätte, hätte er gewusst, dass ihn die Tübinger drei Jahre später nicht wiederwählen sollten.

Schwäbisches Tagblatt
Im Schwäbischen Tagblatt entbrannte infolge zahlreicher Leserzuschriften eine hitzige Diskussion über das politische Klima in Tübingen | Schwäbisches Tagblatt, 29. & 30. Oktober 1954, Stadtarchiv Tübingen A150 415.

In der Stichwahl im Oktober 1954 mit einer Wahlbeteiligung von 71,6% unterlag Mülberger, der auf 45,2% der Stimmen kam, seinem Herausforderer Hans Gmelin* mit 54,8%. Die Bewerbung Hans Gmelins und sein anschließender Amtsantritt lösten in Tübingen eine größere Diskussion in der Öffentlichkeit und der regionalen Zeitung aus. Während Gmelins Rolle in der SA, aber auch seine NSDAP-Parteimitgliedschaft Fragen nach seiner charakterlichen Eignung und des politischen Klimas in Tübingen aufwarfen, spielte das Parteibuch bei seinem Vorgänger Mülberger keine Rolle. Mülbergers Verdienste insbesondere um die Universität Tübingen blieben dennoch nicht unbeachtet und man ernannte ihn im Februar 1955 zum Ehrensenator der Universität.

Ein Jahr später trat er in den Bundesdienst und baute als Leitender Regierungsdirektor bei der Wehrbereichsverwaltung V die Wehrersatzorganisation im mittlerweile entstandenen Südweststaat Baden-Württemberg auf. Damit stellte er seine Dienste, nachdem er Reichswehr und Wehrmacht hinter sich gelassen hatte, der neugegründeten Bundeswehr zur Verfügung.

1957 erfolgte gemeinsam mit seiner Frau eine knapp vierwöchige Urlaubsreise durch Nordeuropa. Es war nicht nur der Wunsch von Mülberger, so seine Frau, die “Stätten seiner Wirksamkeit im Norden aus den Kriegsjahren wiederzusehen”, Mülberger nutzte die Reise auch, um einige seiner ehemaligen Kollegen der Luftwaffe in Norddeutschland zu besuchen. Unter den “alten Freunden” waren Arnold Alberti aus Mülbergers Dienstzeit im Luftgaukommando Kiel und Nicolaus Carstensen, welcher gemeinsam mit ihm in das RLM eintrat und ihn auch im Entnazifizierungsverfahren unterstützt hatte.

Mülbergers Nachkriegskarriere gipfelte 1962 in der Beförderung zum Präsidenten der Wehrbereichsverwaltung V. Der baden-württembergische Justizminister Wolfgang Haußmann (1903 – 1988) setzte sich für die Verleihung des großen Bundesverdienstkreuzes an Mülberger ein, eine Ehre, die ihm dann im Dezember 1965 zuteil wurde. Sein Leben war, sagte Haußmann, von der „Zuneigung zur Rechtswissenschaft und Kommunalpolitik sowie von der Liebe zur Fliegerei bestimmt“. Bis zuletzt blieb Mülberger der Fliegerei verbunden, seinen letzten eigenen Flug absolvierte er mit 58 Jahren. 1966 trat er in den Ruhestand. Drei Jahre vor seinem Tod ehrte ihn Tübingen mit der Bürgermedaille, eine Auszeichnung, die er 1965 noch abgelehnt hatte, zu tief saß in ihm lange Zeit die Enttäuschung darüber, aus der er kein Geheimnis machte, dass ihn die Tübinger nicht wiedergewählt hatten. Am 5. September 1983 starb er in Stuttgart.

 

 

Quellen

BArch PERS 6/19119; PERS 6/183613; PERS 6/293460; RL 6/56.

HStA Stuttgart J 191; Q 1/2 Bü 127.

StA Ludwigsburg EL 262 I Bü 144.

StA Sigmaringen Wü 2 T 1 Nr. 697a; Wü 2 T 1 Nr. 1384; Wü 13 T 2 Nr. 3232/026.

StadtA Tübingen A150/100; A150/367; A150/4334; A150/415; A170/0000; A510/0313; A200/0395; A200/0331; ZGS 001-Mülberger.

 

 

*Anmerkung: Für Hans Gmelins Rolle im Nationalsozialismus siehe Niklas Krawinkel: Belastung als Chance. Hans Gmelins politische Karriere im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2020.

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