Anfang November 1938 hatte der 17-jährige Herschel Grynszpan, ein in Hannover geborener Jude mit polnischer Staatsangehörigkeit, der in Paris bei einem Onkel lebte, von der gewaltsamen Zwangsausweisung seiner Familie im Rahmen der „Polenaktion“ erfahren. Wenige Tage später, am 7. November betrat er daraufhin mit einem Revolver das deutsche Botschaftsgebäude in der französischen Hauptstadt, wo er mehrmals auf den Botschaftssekretär Ernst vom Rath schoss. Das Attentat bildete Vorwand und zugleich Auftakt für die im „Dritten Reich“ einsetzenden Novemberpogrome, die für eine „neue Dimension der Gewalt gegen Juden, für den Übergang von der Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Verfolgung, Beraubung und Vertreibung“ (Gross) stehen und sich nun zum 80. Mal jähren.
Das Attentat Grynszpans war ein willkommener Anstoß für die nationalsozialistische Führung, die alle Hebel in Bewegung setzte, um den Vorfall von Paris breitenwirksam in ihrem Sinne zu missbrauchen. Noch bevor Reichsminister Joseph Goebbels am 9. November mit dem Einvernehmen Hitlers die reichsweiten Pogrome auslöste, wurde dessen Apparat aus dem Propagandaministerium tätig: Am Abend des 7. November veröffentlichte das Deutsche Nachrichtenbüro (DNB), das unter Leitung von Goebbels‘ Ministerium stand, einen Rundruf, in dem es hieß: „Alle deutschen Zeitungen muessen in groesster Form ueber das Attentat […] berichten. Die Nachricht muss die erste Seite voll beherrschen.“ Die vorgegebene Interpretation der Ereignisse nahm die kommenden Tage dabei in unheilvoller Form vorweg: „In eigenen Kommentaren ist darauf hinzuweisen, dass das Attentat des Juden die schwersten Folgen fuer die Juden in Deutschland haben muss, und zwar auch fuer die auslaendischen Juden in Deutschland.“ Für die weitere „Recherche“ verwies man auf einen vermeintlichen Experten aus den Reihen des Propagandaministeriums: den Regierungsrat Wolfgang Diewerge.
Diewerge, ein der NSDAP 1930 beigetretener „Alter Kämpfer“, war seit 1934 in Goebbels‘ Ministerium angestellt, in dem er in der Abteilung Ausland (VII) für Frankreich, Marokko, die Schweiz, Monaco und Ägypten zuständig war. Seit 1936 im Rang eines Regierungsrates, hatte er in der Vergangenheit vor allem als Sonderberichterstatter und Autor antisemitischer Hetzschriften Aufsehen erregt. So hatte er in Kairo den Prozess Umberto Jabès gegen Wilhelm van Meeteren, Vorsitzender des dortigen Deutschen Vereins, begleitet, in dem ersterer wegen Beleidigung und Aufruf zum Rassenhass geklagt hatte. Auch über den Strafprozess gegen David Frankfurter, der 1936 den schweizerischen NSDAP-Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff getötet hatte, war von Diewerge berichtet worden. Beide Fälle hatte Diewerge anschließend in der Presse und seinen Buchveröffentlichungen als „Verschwörung des internationalen Judentums“ gegen das Deutsche Reich gedeutet.
Nun also Herschel Grynszpan – Diewerge, der die Pressekampagne über das Pariser Attentat verantworten sollte, ließ es sich nicht nehmen, den vom Nachrichtenbüro geforderten Kommentar auf Seite Eins des Völkischen Beobachters persönlich zu verfassen. Schon die Überschrift machte deutlich, welchen Zweck der Autor mit seinem Leitkommentar verfolgte. „Verbrecher am Frieden Europas“ – so überschrieb er seine Ausführungen und verzichtete dabei ganz bewusst auf einen Artikel, damit unklar blieb, ob er sich auf den Einzeltäter Grynszpan oder eine „jüdische Weltverschwörung“ bezog. Bereits im ersten Absatz stellte er das Attentat von Paris als „zweiten Mord von Davos“ in die Tradition der Gustloff-Affäre: „Denn es besteht kein Zweifel daran, daß es sich bei dieser Meucheltat um eine Demonstration jener Kreise handelt, die nun nach Verlust ihrer Schlupfwinkel in Wien und Prag die französische Hauptstadt als letzte Bastion zu verteidigen haben.“
Entsprechend den (vermutlich von ihm ausgehenden) Anweisungen im bereits erwähnten DNB-Rundruf verzichtete Diewerge auf jede „anti-franzoesische Tendenz“ und betonte die vermeintlichen Friedensbemühungen des „Dritten Reiches“. Die in Paris lebenden „Juden“, die die „Frechheit“ besäßen, „sich ‚Deutsche Schriftsteller in Frankreich‘ zu nennen“, beschrieb Diewerge dann auch als Terroristen an den ausgezeichneten deutsch-französischen Beziehungen. So spannte er den Bogen vom 17-jährigen Einzeltäter Grynszpan, der aus Verzweiflung über das Schicksal seiner Familie gehandelt hatte, zu führenden Intellektuellen der Weimarer Republik, die nicht selten gar keinen jüdischen Hintergrund hatten, sich aber kritisch über die Nationalsozialisten äußerten. Gleichermaßen diffamierte der Ministerialbeamte Alfred Kerr, Franz Werfel, Bertolt Brecht und viele andere als „Geisteshelden der Novemberrepublik“, die sich gemeinsam mit Grynszpan und Frankfurter unter dem Schirm der jüdischen „Terrororganisation“, der „Weltliga zur Abwehr des Antisemitismus“ zusammengefunden hätten. Nicht das nationalsozialistische Regime, das mit einer aggressiven Außenpolitik 1938 erst Österreich „angeschlossen“ hatte und dann im Zuge des „Münchener Abkommens“ Gebietsgewinne im Sudetenland verzeichnen konnte, war Diewerge zufolge Motor eines neuerlichen Krieges. Stattdessen fordere die Weltliga einen „vorbeugenden Krieg gegen Deutschland“ und rufe zu „Haß und Gewalt“ auf, die sich im Attentat Grynszpans nun erneut Bahn brechen würden. Der „internationale Jude“ blockiere auf diese Art und Weise die friedliche und internationale Verständigung.
Gustloff-Affäre und Pariser Attentat beschrieb Diewerge dabei gleichermaßen als großangelegte Verschwörung mit methodisch ähnlichen Vorgehensweisen: „Es ist das gleiche Spiel, einen ‚unpolitischen‘ Juden vorzuschicken und dann aus seiner Tat ‚eine herzzerreißende Tragödie des gequälten Judentums‘ zu machen.“ Schon im Fall von David Frankfurter, so Diewerge weiter, habe man von deutscher Seite „auf die Hintergründe jener Tat aufmerksam gemacht und die verantwortlichen jüdischen Kreise in Paris, Prag, Kairo und Neuyork, die solche Taten finanzieren und propagieren, namentlich genannt“.
Es sei ein „unmöglicher Zustand“, schlussfolgerte Diewerge am Ende seines Kommentars, „daß in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen, Vergnügungsstätten bevölkern und als ‚ausländische‘ Hausbesitzer das Geld deutscher Mieter einstecken, während ihre Rassegenossen draußen zum Krieg gegen Deutschland auffordern“. Unmittelbar damit verbunden war die offene Drohung, sich „die Namen jener [zu] merken, die sich zu dieser feigen Meucheltat bekennen“ würden. Demzufolge sei das Attentat nun Auslöser, für die Entwicklung „einer neuen deutschen Haltung in der Judenfrage“. Diese „neue Haltung“ mündete in der Nacht des 9. November in reichsweiten antisemitischen Ausschreitungen unterschiedlicher Dauer und Intensität, denen nicht nur etliche Wohn- und Geschäftsgebäude sowie Synagogen zum Opfer fielen, sondern an deren Ende auch mehrere hundert Tote und circa 30.000 verhaftete und in Konzentrationslager deportierte Jüdinnen und Juden standen.
Wolfgang Diewerge hingegen koordinierte weiterhin die Propagandamaßnahmen im Fall Grynszpan, die er abermals in einer eigenen Veröffentlichung unter dem Titel „Anschlag gegen den Frieden. Ein Gelbbuch über Grünspan und seine Helfershelfer“ verarbeitete. Auf über 170 Seiten wird hier deutlich, wie stark die antisemitische Paranoia Diewerges ausgeprägt war, wenn er Kapitel mit „Das Weltjudentum deckte den Mord“ oder „Hinter den Kulissen der ‚Jüdischen Weltliga‘“ überschrieb. Sein „Gelbbuch“ liest sich wie eine gestreckte Version seines Leitkommentars, ergänzt um Ausführungen über den mittlerweile in Frankreich angelaufenen Prozess gegen Grynszpan; noch im Frühjahr 1939 schloss er es mit folgenden Worten: „Darum ist Deutschlands Judenfeindschaft auch ein Bekenntnis zum Frieden!“
Der nationalsozialistischen Aufarbeitung des Pariser Attentats blieb Diewerge auch während des Zweiten Weltkriegs verbunden, vor allem, als Grynszpan nach der Besetzung Frankreichs nach Berlin und Sachsenhausen überstellt wurde und ein „eigener“ (Schau-)Prozess gegen ihn in Aussicht stand. Mittlerweile Leiter der Rundfunkabteilung des Propagandaministeriums im Rang eines Ministerialrates, war er wesentlich an der Ablaufplanung dieser Scheinverhandlung vor Gericht beteiligt, bei der er auch selbst über die vermeintliche „Weltverschwörung“ gegen das Reich sprechen wollte. Durchkreuzt wurden die deutschen Pläne vor allem durch Grynszpan selbst, der 1941 erklärte, er habe sexuelle Kontakte zu vom Rath gehabt. Als die nationalsozialistischen Machthaber nun fürchteten, dass die antisemitische Stoßrichtung vor Gericht zugunsten möglicher homosexueller Neigungen des deutschen Diplomaten in den Hintergrund treten würde, brach man die Prozessplanung ab. Das weitere Schicksal Grynszpans, dessen Spur sich im KZ Sachsenhausen verliert, ist unbekannt; Augenzeugen berichteten von seiner Hinrichtung im Sommer 1942.
Diewerge überlebte den Krieg und wurde nach 1945 persönlicher Referent des FDP-Politikers Friedrich Middelhauve, wo er nicht zuletzt als Verbindungsmann in die rechtsextremen Kreise rund um Werner Naumann wirken konnte. Nachdem er 1953 als Mitarbeiter unhaltbar geworden war, wechselte er in die freie Wirtschaft und wurde 1968 Geschäftsführer von zwei Vereinen, die in die Flick-Affäre verwickelt waren. Auch der Fall Grynszpan holte ihn in der Bundesrepublik noch zweimal ein: Neben einer Verurteilung wegen Meineides 1966 stellte die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen wegen seiner propagandistischen Begleitung und Planung des Schauprozesses als Vorbereitung für den Holocaust an, die aber 1969 aus formalen Gründen eingestellt wurden.
Literatur und Quellen:
Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 8. November 1938.
Benz, Wolfgang: Diewerge, Wolfgang, in: Ders. (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2/1: Personen, A–K, Berlin 2009, S. 174–176.
Goll, Thomas: Die inszenierte Empörung. Der 9. November 1938. Kapitel 4, Bonn 2010.
Gross, Raphael: November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe, München 2013.
Steinweis, Alan E.: Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom, Stuttgart 2011.
Einen umfassenden Überblick über die Biografie Diewerges bietet auch der Wikipedia-Artikel zu seiner Person (zuletzt abgerufen: 9. November 2018).