Wie andere prominente Nationalsozialisten, die sich seit dem Herbst 1945 vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg verantworten mussten, nutzte auch Alfred Rosenberg seine Haft zu schriftstellerischer Tätigkeit, die dazu dienen sollte, sich selbst, den Anklägern und wohl auch der Nachwelt die eigene politische Biographie zu deuten. Unter den von Rosenberg in Nürnberg hinterlassenen Papieren findet sich auch ein Konvolut von Texten, in denen er Militärführer und Parteigenossen charakterisiert und sein eigenes Verhältnis zu ihnen beschreibt. Dort begegnen auch Beschreibungen von zwei politischen Weggefährten, die wie er selbst ein von den Nationalsozialisten neu geschaffenes Reichsministerium geleitet hatten: Reichserziehungsminister Bernhard Rust und Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, die sich beide Anfang Mai 1945 durch Selbstmord einer Bestrafung durch die Alliierten entzogen hatten. Über Hermann Göring findet sich in den Aufzeichnungen kein Porträt, vermutlich weil Rosenberg den in Nürnberg mitangeklagten und noch lebenden früheren Reichsluftfahrtminister nicht belasten wollte.
Sein Porträt Rusts hat Rosenberg knapp gehalten und gönnerhaft gestaltet: „Plötzliches Temperament“ und Labilität in „manchen Entscheidungen“ attestierte er dem Studienrat, der unter den norddeutschen Parteigenossen erst vorgerückt sei, als sein Nachbargauleiter in Hannover, Karl Dincklage, „zum Schaden der Bewegung“ 1930 verstarb. Rust habe sich „manchen Verdienst“ erworben, zu „höherer Kameradschaft zwischen uns“, so Rosenberg weiter, sei es aber nicht gekommen. Die Kernfrage für Rosenberg war beim Blick auf Rust, ob er selbst nicht ein besserer Reichserziehungsminister gewesen wäre als jener. Die Antwort legte er Rust in den Mund, der ihm gegenüber bei einem Besuch in seinem Ministerium gesagt habe: „eigentlich müssten Sie auf meinem Stuhl sitzen, Sie sind unser Lehrer, auch meiner gewesen“. Er selbst, so Rosenberg, habe dem widersprochen, da er sich „in die ganze Einzelarbeit von Schulprogramm, Personalien usw. […] gar nicht“ habe hineinbegeben wollen. Diesem möglicherweise nur fiktiven Dialog fügte er allerdings hinzu: „Aber irgendwie bedauerte ich es später doch, weil die Tatsache einer möglichen Gesetzgebung ihr natürliches Schwergewicht hatte“. Die Überzeugung, dass er selbst dieses Schwergewicht besser genutzt hätte, schwingt zwischen den Zeilen mit, denn Rosenberg konstatierte, dass Rust den „Kräften, die ihn später hin- und her stießen, innerlich mit wenig Halt“ gegenübergestanden habe.
Während sich aus den Zeilen über Rust allenfalls latente Frustration Rosenbergs darüber herauslesen lässt, nicht selbst Reichserziehungsminister geworden zu sein, so führten dem ehemaligen Reichsminister für die besetzten Ostgebiete bei seinem sehr viel ausführlicheren Goebbels-Porträt erkennbar starke Emotionen die Feder. Gleich in den ersten Zeilen bewertete er ihn „als den Mephisto unserer einst so geraden Bewegung“, dessen „Wirksamkeit von 1925 bis zum Zusammenbruch eine geschichtlich zu erforschende Kraft in der Entwicklung der ns. Revolution“ gewesen sei. Rosenberg rekapitulierte den Beginn seiner Bekanntschaft mit Goebbels zunächst über dessen Beiträge für den „Völkischen Beobachter“, die ihm als „gekünstelt“ und „nicht innerlich ächt“ erschienen seien. Auch Goebbels erste Rednertätigkeit in München, die ihm das Wohlwollen Hitlers einbrachte, habe er mit Skepsis beobachtet, allerdings „durchaus bereit, auftretende Gefühle zurückzustellen“. Mit seiner Ernennung zum Gauleiter von Berlin habe Goebbels dann jedoch seine Maske fallen gelassen: Kaum „hatte er diesen Posten erhalten, da begann etwas, was die Ur-Essenz aller seiner Reden und Taten gewesen ist: das Zurschaustellen seiner Person in einer seinen jeweiligen Machtmitteln entsprechenden Weise“, jener „krankhaft egozentrische Zug“.
Dass er selbst dies sofort erkannt habe, Adolf Hitler aber zeitlebens blind gegenüber Goebbels‘ massiven Charakterdeformationen geblieben sei, erklärte Rosenberg mit der engen Bindung des „Führers“ an die Familie Goebbels, die ihn quasi adoptiert habe: „Hitler war Trauzeuge, verkehrte gern im Hause Goebbels am Reichskanzleiplatz, sehr verständlich in seinem Junggesellendasein. Dieses rein Persönliche, verstärkt später durch die vielen Kinder, die bei jeder Gelegenheit mit Hitler photographiert wurden, bildeten jenes Band, das Hitler an Goebbels festhalten ließ, trotzdem dieser […] drei Mal auf dem politischen Totenbett gelegen hatte“.
Für eine fatale Weichenfehlstellung hielt Rosenberg, dass Goebbels im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme sich seinen politischen Einflussbereich mit der Einrichtung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda selbst zuschneiden konnte und sich damit eine Deutungskompetenz auch für Kunst und Kultur anmaßte. Dies habe nicht nur ihn selbst, „sondern viele wirklich ernst für Kultur und Kunst interessierte Menschen innerlich“ erschüttert: „politische Propaganda mit Kunst verbinden! […] ich habe nie ein Hehl in Gesprächen gemacht, dass ich diese Lösung im Grundsatz für falsch hielt“.
Wie Goebbels das Amt ausübte, habe dann, so Rosenberg, seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Im Laufe der Jahre sei „aus dem Munde von Dr. Goebbels kein originales, kein schöpferisches, tieferes Wort über die Kunst gesprochen worden, wohl aber hörte man die abgeschmacktesten Worte von Lorbeer auf Künstlerstirnen und glatte Passagen, halbverstandene Gespräche mit dem Führer. Weder hier noch auf anderen Gebieten vermochte Goebbels ein Problem konkret zu sehen, es plastisch darzustellen“. Worin er allerdings höchst erfolgreich war, sei die Selbstdarstellung gewesen: „Seitdem Goebbels Herr der Propaganda war, wurde die deutsche Öffentlichkeit in wohl präparierten Abständen mit Bildern von ihm versehen: Goebbels beim Führer am Kamin auf dem Obersalzberg, auf dem Weihnachtsmarkt mit seiner Tochter, am Schreibtisch in wichtigen Besprechungen, bei einer Rede in Berlin, Köln, Hamburg usw. Seine Reden mussten immer sehr lang wiedergegeben und nach Stichworten kommentiert werden. Jede Maßnahme, wie sie überall zum laufenden Dienstbetrieb aller Ressorts gehörte, wurde der Öffentlichkeit als wichtige staatsmännische Handlung mitgeteilt“. Immer wieder habe er versucht, Hitler wenigstens auf einzelne Fehler des Reichspropagandaministers hinzuweisen, und manchmal sei er damit auch durchgedrungen; allein Goebbels‘ Stellung gegenüber dem „Führer“ sei dadurch nicht zu erschüttern gewesen: „… mit tausend Wurzeln hatte er sich am Starken festgesaugt, der sich nicht mehr befreien konnte, ohne sich selbst bloßzustellen“.
Auf die Frage, warum Goebbels ein vermeintlicher Egozentriker war, suchte Rosenberg brachialpsychologische Antworten. Er habe sich immer bemüht, „auch Goebbels rein menschlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“. Schließlich war dieser „mit einem Klumpfuß geboren und damit aus allem Wettstreit der Knaben, aus allen ihren Freuden geschieden. Er musste mit Schmerz – und schließlich mit Neid – beobachten, wie sie alle stark und gesund ins Leben traten“. Um dies zu ertragen, habe er alle seine Energien „in einem Brennpunkt“ gesammelt: „diesen Gesunden, Frohen, Geraden zu zeigen, dass er auch etwas leisten könne“. In „Opposition zur Geltung zu kommen“, habe Goebbels erstrebt, als er sich den Nationalsozialisten anschloss und dabei auch Erfolg gehabt, der ihn allerdings nie zur inneren Ruhe hätte kommen lassen, zumal ihm seine persönliche Unzulänglichkeit gerade durch die „Entwicklung der ns. Bewegung zur stärkeren Betonung des Gesunden, der rassehygienischen Überlegungen, der Rassenfrage überhaupt“ immer wieder vor Augen geführt worden sei. Hierauf habe er mit Überkompensation reagiert, wodurch sich erklären lasse, dass Goebbels „hinter allen Exzessen so peinlicher Art“ stand, „wie die Bücherverbrennung, den Boykotttag, vor allem hinter der antijüdischen ‚Aktion‘ vom 9.-10. November 1938“.
Goebbels‘ Selbstmord wertete Rosenberg als „menschliche Tragödie“, weil er „mit seinen eigenen Kindern in den Tod“ gegangen war, als Tragödie aber auch, weil er selbst nun „den Siegern als Anklägern ein Jahr lang täglich ins Gesicht sehen“ müsse und „an der Stelle von Goebbels und anderen für das angeklagt“ werde, „was sie in erster Linie mitverursacht haben“. Diese anderen machte Rosenberg am Schluss seines emotionsgeleiteten Goebbels-Porträts auch noch namhaft: „Ich wollte den Mephistoteles nicht gekränkt haben, als ich Goebbels den Mephisto Hitlers nannte, denn dieses Format hat er nie erreicht. Dafür war er nicht der einzige, sondern drei sind es nach und nach geworden, die vor allem den Nationalsozialismus zur Entartung brachten. Außer Goebbels noch Heinrich Himmler und Martin Bormann“.