Als vor knapp fünf Jahren die verschollen geglaubten Tagebücher Alfred Rosenbergs im Nachlass des ehemaligen stellvertretenden amerikanischen Chefanklägers bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen Robert Kempner wiederauftauchten, waren die Erwartungen groß, dass neue Erkenntnisse über die deutschen Planungen zur Judenvernichtung gewonnen werden könnten oder vielleicht sogar Teile der Geschichte des Nationalsozialismus neu geschrieben werden müssten. Immerhin versprachen sie als persönliche Aufzeichnungen eines Angehörigen des engeren nationalsozialistischen Führungszirkels an die Seite der bislang in dieser Hinsicht unikaten Tagebücher von Joseph Goebbels zu treten. Was den besonders Neugierigen schon bei der Lektüre des Originalmanuskripts, das über die Website des United States Holocaust Memorial Museum rasch öffentlich zugänglich gemacht wurde, Ernüchterung bereitete, wurde dann 2015 mit der von Jürgen Matthäus und Frank Bajohr verantworteten wissenschaftlichen Edition der Rosenberg-Tagebücher auch einem breiteren Publikum deutlich: In der Dichte und Detailliertheit der Mitteilungen stehen Rosenbergs Aufzeichnungen hinter den Goebbels-Tagebüchern weit zurück, und oftmals sind über Wochen hinweg – gerade in der für die Geschichte des Holocaust zentralen Phase vom Herbst 1941 bis zum Frühjahr 1942 – gar keine direkten Aufzeichnungen, sondern nur rückblickend zusammengefasste und wenig aussagekräftige Kurzmitteilungen überliefert.
Auch die im Zusammenhang unseres Forschungsprojekts wichtige Vor- und Gründungsgeschichte des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete erhellt sich in ihren Einzelheiten in Rosenbergs Tagebüchern nur wenig. Allerdings machen seine Aufzeichnungen doch deutlich, als welch großen persönlichen Bedeutungszuwachs Rosenberg sein neues Amt wahrnahm, hatte er doch in seinen bisherigen parteiamtlichen Stellungen als Leiter des „Außenpolitischen Amtes der NSDAP“ und als „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ in besonders exponierten Konkurrenzverhältnissen gestanden und in den Diadochenkämpfen an der Parteiführungsspitze noch keine Position erlangt, die seiner Selbstwerteinschätzung entsprach. Wie sich diese im Laufe des Jahres 1941 durch die Perspektive neuer Aufgaben in den besetzten Ostgebieten und durch deren Konkretion mit der Einrichtung des Reichsministeriums stabilisierte, sei im Folgenden durch einige Lektürefrüchte aus seinen Tagebüchern illustriert.
Seinen Tagebüchern zufolge mit nur ungefährer Kenntnis der allgemeinen außen- und kriegspolitischen Ziele Hitlers und ohne Einblick in die militärischen Planungen des „Unternehmens Barbarossa“, erfuhr Rosenberg erst im Frühjahr 1941 von dem bevorstehenden deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Über dessen politische Folgen führte er am Abend des 2. April 1941 ein zweistündiges Gespräch mit Hitler, das jener mit den Worten beendete: „Rosenberg, jetzt ist ihre grosse Stunde gekommen!“ Rosenberg hatte Hitler zuvor „die rassische u. geschichtliche Lage in den Ostseeprovinzen, die Ukraine in ihrem Kampf gegen Moskau, die notwendige wirtsch. Verbindung mit dem Kaukasus usw.“ entwickelt und ihm bereits eine Denkschrift dazu übergeben. Für die „ganze russische Frage“, das heißt: zu dem Problem, welche Teile der Sowjetunion dem Reich kurz-, mittel- und langfristig in welcher Form nutzbar gemacht werden könnten, wollte Hitler bei sich „ein Büro einrichten und Sie sollen es übernehmen. Arbeiten Sie nach allen Richtungen Richtlinien aus, was Sie an Geld brauchen, steht Ihnen zur Verfügung“. Rosenberg verstand den Auftrag sofort als eine historische Mission und verhehlte seinen Stolz im Tagebucheintrag nicht: „20 Jahre antibolschewistischer Arbeit sollen also ihre politische, ja weltgeschichtliche Auswirkung erfahren. … Millionen … und ihre [sic] Lebensschicksal wird damit in meine Hand gelegt. Deutschland kann auf Jahrhunderte von einem Druck erlöst werden, der immer wieder, unter verschiedenen Formen, auf ihm lastete“.
An den folgenden Tagen sprach Rosenberg mehrfach mit Hitler, präsentierte ihm eine weitere Denkschrift, und am 11. April ging er „noch bewegter nach Hause“, denn je „mehr ich mir alles einzelne überlege u. nunmehr den neuen wehrgeographischen Atlas von Niedermayer durchsehe, umso bewusster wird es mir, welch ein Raum … welch eine Aufgabe all‘ jenen bevorsteht, die dort zu wirken haben werden. Praktisch gesehen hat der Führer mir für den Eventualfall das Schicksal eines Raumes anvertraut, der nach seinen Worten ‚ein Kontinent‘ ist mit 180 Millionen Menschen, von denen gegebenenfalls rund 100 Millionen in den unmittelbaren Aktionsbereich mitein bezogen [sic] werden“. Am 20. April notierte Rosenberg die ersten Ergebnisse seiner Besprechungen mit dem Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, der ihm die Einrichtung eines „Reichsministeriums“ vorschlug, „woran ich nicht gedacht hatte, da mein Auftrag sich ja auf ein ausserdeutsches Gebiet beziehen soll“. In den Tagebucheinträgen der nächsten Wochen kommt Rosenberg immer wieder auf seine neue Aufgabe zurück: Kurzberichte über Bemühungen, die künftigen eigenen Kompetenzen in Polizeifragen gegen die SS oder in Wirtschaftsfragen gegen Hermann Göring als „Beauftragten für den Vierjahresplan“ abzusichern, wechseln ab mit Passagen, die der Selbstvergewisserung über die Größe der persönlichen Herausforderung dienen, wie etwa am 1. Juni der Verweis auf „jene Gedanken und Gefühle, die mich alle Stunden bei der Arbeit für die Lösung der Ostfragen bewegen müssen. Das deutsche Volk für kommende Jahrhunderte von dem ungeheuren Druck von 170 Millionen zu befreien, gibt es heute eine grössere Aufgabe!“
Recht breiten Raum nimmt in den Tagebüchern die offizielle Beauftragung Rosenbergs am 16. Juli ein – das Datum, das, so notierte der nunmehrige Reichsminister vier Tage später, „wohl als entscheidender Tag in die Geschichte eingehen“ werde: „an ihm wurde im Führer-Hauptquartier die Aufteilung des osteuropäischen Raumes, ihre Formen, Zielsetzung, Leitung usw. beschlossen und ich zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete (d. h. praktisch für das Gebiet der ganzen europ. Sowjetunion) eingesetzt“. Ungetrübt war Rosenbergs Freude über die „Riesen-Aufgabe“, die „grösste, die das Reich zu vergeben hat, die Sicherung für Jahrhunderte, die Unabhängigmachung Europas von Übersee“, allerdings nicht, da er „nicht die gesamte Vollmacht dafür“ erhalten hatte: Göring habe „für einige Zeit das Vorrecht auf wirtschaftliche Eingriffe […], die, ohne klare Koordination durchgeführt, u. U. die politischen Zielsetzungen gefährden können“, und auch mit der Besetzung des Zentralpostens des Reichskommissars Ukraine mit Erich Koch, den er für einen Günstling Görings hielt, zeigte sich Rosenberg unzufrieden.
Wie schnell die Euphorie verflog, die Rosenberg erfasst hatte, als ihm im Frühjahr 1941 sein neues Aufgabenfeld zufiel, lässt sich in seinen Tagebüchern nicht erkennen, da die Abstände zwischen den Einträgen seit dem Sommer immer größer werden. Am 1. September fand Rosenberg, durch eine Erkrankung zur Ruhe gezwungen, nochmals Zeit für eine längere zusammenhängende Aufzeichnung, in der er aber nur summarisch über den „Aufbau meines Ministeriums“ und „Auseinandersetzungen über Eingriffe Himmlers (der seine alte Sucht nach indirekter Herrschaft m. allen Mitteln durchzusetzen sucht)“ berichtet. Auf die öffentliche Bekanntgabe der Existenz seines Ostministeriums im November, die ein Anlass hätte sein können, über seinen persönlichen Bedeutungszuwachs nochmals zu reflektieren, gehen die Tagebücher gar nicht ein, und auch in seinem am 28. Dezember verfassten Resümee des Jahres 1941 scheint Rosenberg nicht zu Eigenlob geneigt gewesen zu sein. Statt der Größe der Aufgabe betont er dort die Widrigkeiten der Aufbauphase, insbesondere dass das neue Ministerium von verschiedenen Stellen nur „als Durchgangsstation für ihre Wünsche“ betrachtet worden sei. „Es dauerte lange, sie von der führenden Bestimmung des Ost-Min.[isteriums] zu überzeugen. Was aber noch nicht gänzlich der Fall ist“.